Multiversum, verborgene Variablen oder Zufall?
Welche Interpretation der Quantenmechanik beschreibt die Wirklichkeit?
Beim folgenden handelt es sich um einen Artikel, der ursprünglich in der Zeitschrift “Studium Integrale Journal“ (Jahrgang 30 Heft 1) der Studiengemeinschaft Wort und Wissen erschienen ist.
Die Quantenmechanik gilt als eine der am besten bestätigten Theorien. Dennoch bringt sie Wissenschaftler immer wieder ins Grübeln. Auch fast 100 Jahre nach ihrer Formulierung herrscht noch Uneinigkeit darüber, wie ihre Aussagen zu interpretieren sind. Es gibt viele Interpretationen, die alle im Einklang mit den wissenschaftlichen Daten sind. Diese Vielzahl an gleichwertigen Interpretationen derselben Theorie führt uns zu einer überraschenden Analogie mit Weltanschauungen.
Kompakt
Das Doppelspaltexperiment zeigt, dass Quantenobjekte sowohl Wellen- als auch Teilcheneigenschaften besitzen (Welle-Teilchen-Dualismus). Außerdem hat die Art der Messung einen Einfluss auf den Ausgang des Experiments (Messproblem). Mathematisch lassen sich diese Beobachtungen durch verschiedene Ansätze beschreiben, z. B. durch das Schrödingerbild, das Heisenbergbild und die Feynman‘sche Pfadintegralformulierung. Nach dem Schrödingerbild sind die Quantenobjekte in einer Überlagerung mehrerer Zustände und werden erst durch die Messung auf einen Zustand festgelegt. Mit welcher Wahrscheinlichkeit sie in einem gegebenen Zustand gemessen werden, lässt sich aus Schrödingers Wellengleichung bestimmen.
Die Interpretation dieser Gleichungen wird kontrovers diskutiert und es stellte sich heraus, dass sie unterschiedlich interpretiert werden können. Am geläufigsten ist die Kopenhagener Deutung, welche besagt, dass die Natur sich tatsächlich so verhält. Das Messproblem zeigt demnach die Grenze dessen, was die Wissenschaft beschreiben kann. Die De-Broglie-Bohm-Theorie geht davon aus, dass es zusätzlich verborgene Variablen gibt, die den Zustand der Teilchen festlegen. Diese bewegen sich auf einer durch die Schrödingergleichung gegebenen Pilotwelle. In der Viele-Welten-Theorie wird nach einer Messung jeder Zustand angenommen, nur nicht im selben Universum. Jede Messung bedingt hier die Erzeugung vieler neuer Welten, in denen je einer der möglichen Zustände angenommen wurde. Trotz ihrer großen Unterschiede können alle diese Deutungen das Doppelspaltexperiment schlüssig erklären. Analog dazu lassen sich auch viele Naturphänomene sowohl unter Voraussetzung einer naturalistischen Evolution als auch einer übernatürlichen Schöpfung deuten.
Einleitung
Zum Ende des 19. Jahrhunderts waren viele Wissenschaftler der Meinung, dass die offenen Fragen der Physik bald gelöst wären. Die Physik sei bald abgeschlossen. Aus diesem Grund wurde Max Planck von einem Physikstudium abgeraten (Planck 1943).
Heute wissen wir, dass dies weit von der Wahrheit entfernt war. Das 20. Jahrhundert begann mit einer regelrechten Explosion neuer Entdeckungen und daraus resultierender Teilgebiete innerhalb der Physik. Auf der einen Seite revolutionierte Albert Einsteins spezielle Relativitätstheorie 1905 unser Verständnis von Raum und Zeit (Einstein 1905). Später entwickelte Einstein die allgemeinere Form der Relativitätstheorie, welche die Gravitation einschließt (Einstein 1915). Auf der anderen Seite begründete eben jener Max Planck mit seiner Beschreibung der Schwarzkörperstrahlung die Quantenmechanik (Planck 1901). Das Schwarzkörperproblem war eine der offenen Fragen der Physik. Ein Schwarzkörper ist ein idealisiertes Konstrukt, das jede auf ihn eintreffende Strahlung absorbiert. Nach den Gesetzen der Strahlungslehre bedeutet dies, dass er alle Strahlung, die er aufgrund seiner Temperatur produziert, aussendet. Unsere Sonne kann z. B. näherungsweise als ein solcher Schwarzkörper angesehen werden.
Versucht man mit den klassischen Strahlungsgesetzen zu berechnen, welche Intensität das ausgesendete Licht des Schwarzkörpers bei einer gegebenen Temperatur und Frequenz hat, erhält man als Ergebnis, dass sie zu hohen (ultravioletten) Frequenzen hin gegen unendlich strebt. Eine solche Lösung ergibt nicht nur physikalisch keinen Sinn, sondern widerspricht auch den Messergebnissen. Schließlich strahlt ein Ofen oder eine Glühbirne nicht in großem Maße ultraviolettes Licht aus. Auch hat das Lichtspektrum der Sonne einen vergleichsweise geringen UV-Anteil. Dieses Problem war als „Ultraviolett-Katastrophe“ bekannt. Planck konnte es lösen, indem er eine Hilfskonstante einführte, heute bekannt als das Planck‘sche Wirkungsquantum. Ursprünglich hatte er vor, dieses am Ende seiner Berechnungen in einer Grenzwertberechnung gegen null gehen zu lassen. Jedoch bekam er mit den Messergebnissen übereinstimmende Ergebnisse nur mit einem nicht verschwindenden Wirkungsquantum.
Dies bedeutet, dass Energie nicht in beliebiger Größe auftritt, sondern in gequantelten Paketen fester Größe. Aus dieser Erkenntnis bildete sich der Begriff der Quantenmechanik.
Mehr noch als die Relativitätstheorie hat diese neue Theorie die Vorstellungskraft und das Verständnis der Wissenschaftler auf eine harte Probe gestellt. Weitere Entdeckungen, wie z. B. der Fotoeffekt, zeigten, dass Licht nicht nur, wie bislang angenommen, als eine Welle agiert, sondern auch Eigenschaften von Teilchen aufweist. Dies hatte Newton bereits vermutet. Umgekehrt konnte gezeigt werden, dass zuvor als reine Teilchen angesehene Objekte wie z. B. Elektronen auch eine Wellennatur aufweisen.
Mehr noch als die Relativitätstheorie hat die Quantentheorie die Vorstellungskraft und das Verständnis der Wissenschaftler auf eine harte Probe gestellt.
Noch merkwürdiger wurde dieser Sachverhalt, als man feststellte, dass die Messung selbst einen Einfluss darauf hat, ob sich das gemessene Objekt wie ein Teilchen oder wie eine Welle verhält. Besonders einfach lässt sich dieses Phänomen, das die wesentlichen Aussagen der Quantenmechanik beinhaltet, am Doppelspaltexperiment darstellen.
Das Doppelspaltexperiment
Der Aufbau des Doppelspaltexperiments besteht aus zwei Wänden: Die vordere Wand ist mit zwei Spalten versehen. Die hintere Wand gleicht einem Schirm, der eintreffende Objekte absorbiert. Ein solcher Versuchsaufbau ist interessant, weil Teilchen- und Wellenobjekte sich hier unterschiedlich verhalten. Er kann verwendet werden, um festzustellen, ob sich Objekte wie z. B. Licht wie eine Welle oder ein Teilchen verhalten.
Bei teilchenartigen Objekten ist das Verhalten simpel: Die Teilchen, die nicht an der vorderen Wand abprallen, werden eine der beiden Spalten passieren und demnach auch im Bereich um diese beiden Spalten auf der hinteren Wand ankommen (vgl. Abb. 1).
Bei wellenartigen Teilchen ist das Verhalten komplizierter: Eine Welle wird sich, nachdem sie den Doppelspalt passiert hat, in zwei Wellen eine pro Spalt) aufteilen. Hinter dem Doppelspalt treffen diese wieder aufeinander. Dabei können im Prinzip zwei Effekte auftreten: Zum einen kann ein Wellental auf ein Wellental bzw. ein Wellenberg auf einen Wellenberg treffen.
Zum anderen kann ein Wellenberg auf ein Wellental bzw. ein Wellental auf einen Wellenberg treffen. Das Resultat ist die Summe der Amplituden der aufeinander treffenden Wellen. Das heißt, in ersterem Fall wird sich die Amplitude verdoppeln, während die Amplituden sich im letzteren Fall gegenseitig auslöschen. Dies hat ein Muster mit einem großen Maximum in der Mitte, gefolgt von kleineren Maxima nach außen hin zur Folge. Man nennt diesen Effekt Interferenz und das entstehende Muster ein Interferenzmuster (vgl. Abb. 1).
Wir führen dieses Experiment nun beispielsweise mit Photonen oder Elektronen durch. Es ergibt sich in beiden Fällen ein Interferenzmuster. Problem gelöst, es handelt sich um Wellen, möchte man meinen. Doch dreht man die Intensität der Strahlung herunter, fällt auf, dass immer einzelne Punkte am Schirm detektiert werden, was wiederum auf eine Teilchennatur hindeutet. Dies erscheint widersprüchlich. Wie kann ein Objekt gleichzeitig als Teilchen und als Welle agieren? Es ist, als ob das Teilchen durch beide Spalten gehen würde, mit sich selbst interferieren und dann am Schirm auftreffen würde. Die Frage ist, was genau am Doppelspalt passiert. Daher positionieren wir jetzt einen Detektor bei der vorderen Wand, der prüft, durch welchen Spalt das Teilchen geht. Und hier wird es seltsam: Wenn wir messen, durch welchen Spalt das Objekt geht, wissen wir, dass es nur durch den einen oder den anderen Spalt geht.
Gleichzeitig erscheint auf dem Schirm kein Interferenzmuster mehr, sondern das Muster, das im Falle von Teilchen zu erwarten gewesen wäre. In anderen Worten: Durch das Messen, durch welchen Spalt das Objekt geht, haben wir den Ausgang des Experiments verändert, als wüssten die Objekte, dass wir sie beobachten und würden sich daher anders verhalten. Dieser Effekt wird als das Messproblem bezeichnet.
Mathematische Beschreibung
Auch wenn die neuen Erkenntnisse sehr merkwürdig waren und, wie wir später sehen werden, bis heute keine zufriedenstellende Interpretation gefunden wurde, war eine mathematische Beschreibung relativ schnell entdeckt:
1925/26 konnten Erwin Schrödinger in seiner Wellenmechanik (Schrödinger 1926) und Werner Heisenberg mit seiner Matrizenmechanik (Heisenberg 1925) unabhängig voneinander eine passende Beschreibung der Effekte finden. Schrödinger stellte die nach ihm benannte Wellengleichung auf, welche das Wellenverhalten von Quantenobjekten zu jedem Zeitpunkt beschreiben kann. Jedoch musste eine Deutung gefunden werden, was diese Welle physikalisch beschreibt. Max Born deutete es so, dass das Betragsquadrat der Wellenfunktion die Wahrscheinlichkeit angibt, ein Teilchen in einem bestimmten Zustand vorzufinden.
Die Quantenmechanik funktioniert demnach so, dass Quantenobjekte sich in einem Überlagerungszustand (Superposition) mehrerer verschiedener Zustände befinden können. Bei einer Messung wird das Objekt aber immer in einem einzigen Zustand vorgefunden. Die Wellenfunktion ist ein Maß für die Wahrscheinlichkeit, ein Quantenobjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Zustand vorzufinden. Da eine Messung die Superposition aufhebt, wird dies als Kollaps der Wellenfunktion bezeichnet.
Mit dieser Beschreibung ist es möglich, das Verhalten auf mikroskopischer Ebene zu beschreiben. Doch ist dies nicht komplett möglich: Es können nur noch Wahrscheinlichkeiten angegeben werden, ob etwas passiert oder nicht.
In der klassischen Physik, also der Physik ohne Quantenmechanik, ist es so, dass, wenn man die Anfangsbedingungen eines Objektes und die wirkenden Kräfte kennt, man deren Verhalten absolut und zu jedem Zeitpunkt vorhersagen kann. Dies ist in der Quantenmechanik nicht mehr möglich. Die Quantenmechanik ist daher nicht deterministisch. Eine der Fragen, die sich stellt, ist, ob dies bedeutet, dass die Quantenmechanik eine unvollständige Theorie ist oder ob die Natur sich tatsächlich so verhält und die Prozesse auf fundamentaler Ebene dem Zufall überlassen sind.
Bevor wir dieser Frage nachgehen, sei noch erwähnt, dass es verschiedene mathematische Beschreibungen der Quantenmechanik gibt. Neben dem beschriebenen Schrödingerbild gibt es das Heisenbergbild, das ähnlich ist und durch eine mathematische Transformation ins Schrödingerbild überführt werden kann. Darüber hinaus entwickelte Richard Feynman in seiner Doktorarbeit die sogenannte Pfadintegralformulierung der Quantenmechanik (Feynman 1948). In der klassischen Physik (Physik ohne Quantenmechanik) ist es so, dass ein Objekt den Weg wählt, auf dem die Wirkung (definiert als Energie mal Zeit) minimiert wird. In Feynmans Pfadintegralformalismus trägt jeder mögliche Pfad, den ein Objekt wählen kann, zur Gesamtwahrscheinlichkeit bei, dass es sich von A nach B begeben wird. Je kleiner die Wirkung des jeweiligen Pfades von A nach B, desto höher ist der Beitrag zur Gesamtwahrscheinlichkeit.
Auch diese Formulierung ist äquivalent zu den anderen Beschreibungen und kann aus diesen hergeleitet werden.
Verschiedene Interpretationen
Seit ihrer Formulierung wurde die Quantenmechanik kontrovers diskutiert. Ihr Nutzen war unbestreitbar. Noch heute gilt sie als eine der am besten bestätigten Theorien. Doch viele ihrer Aussagen wie z. B. der Indeterminismus waren und sind vielen Wissenschaftlern ein Dorn im Auge. So auch für Albert Einstein, der mit den Worten „Gott würfelt nicht“ seinen Unmut über die auf Wahrscheinlichkeiten basierende Quantenmechanik ausdrücken wollte (Einstein & Born 1972). Nachdem eine mathematische Beschreibung der Quantenmechanik gefunden wurde, kam man zum eigentlichen Problem, diese Erkenntnisse angemessen zu interpretieren. Auf diesem Gebiet wurde bis heute kein abschließendes Ergebnis erreicht. Das liegt auch daran, dass sich aus jeder der unterschiedlichen Interpretationen dieselben Vorhersagen bestimmen lassen und die „richtige“ Interpretation sich daher nur bedingt experimentell überprüfen lässt.
Im Folgenden werden die geläufigsten Interpretationen kurz beschrieben.
Die Kopenhagener Deutung
Die erste, unter dem Namen Kopenhagener Deutung bekannt gewordene Interpretation entstand bereits 1927 und wurde zunächst von Niels Bohr und Werner Heisenberg formuliert (s. Abb. 2). Im Prinzip besagt sie, dass die Phänomene der Quantenmechanik nicht auf eine Unvollständigkeit der Theorie hindeuten, sondern in der Natur so vorhanden sind. Sie zeigen also auf, wo die Grenzen der Wissenschaft liegen:
Real ist nur das, was gemessen wird. Über Geschehnisse, die zwischen den Messungen auftreten, kann keine Aussage gemacht werden, ohne sich in Widersprüchen zu verfangen. Dies zeigt sich z. B. am zuvor beschriebenen Doppelspalt:
Betrachtet man, was vor der Messung am Schirm passiert, ist zu erwarten, dass etwa eine Hälfte der am Schirm auftreffenden Objekte durch den ersten Spalt und die andere Hälfte durch den zweiten Spalt geht. Summiert man die daraus zu erwartenden Verteilungen auf, erhält man ein Muster, das nicht dem Interferenzmuster entspricht (vgl. Heisenberg 1979).
In der Naturwissenschaft wird aus etwas Objektivem, das unabhängig von dem Beobachter einfach ist, etwas Subjektives, was jenseits unserer Messungen keine klar definierbare Realität besitzt.
Was zwischen den Messungen geschieht, kann also nicht beantwortet werden. Die Quantenmechanik liefert mit der Wellenfunktion zwar ein Werkzeug, um zu beschreiben, was passieren könnte. Daraus kann man die Wahrscheinlichkeit bestimmen, was zukünftige Messungen ergeben werden. Aber als real kann nur das gelten, was gemessen wird. Somit wird in der Naturwissenschaft aus etwas Objektivem, das unabhängig von dem Beobachter einfach ist, etwas Subjektives, was jenseits unserer Messungen keine klar definierbare Realität besitzt.
Diese Interpretation gilt in der Physik als der Standard. Dies liegt insbesondere daran, dass sie pragmatisch ist und nach dem Prinzip „das ist halt so“ argumentiert. Dies ist hilfreich, um sich auf das wissenschaftliche Arbeiten zu fokussieren, ohne sich in endlosen philosophischen Fragestellungen zu verlieren. Diese Betrachtung der Theorie der Quantenmechanik als Werkzeug ohne tiefere Realität ist dem Instrumentalismus zuzuordnen. Im Kontrast dazu steht der wissenschaftliche Realismus, der annimmt, dass die Wirklichkeit so aussieht, wie es unsere bestätigten Theorien vorhersagen.
Nichtsdestotrotz kann die Kopenhagener Deutung auch als eine reale Beschreibung der Wirklichkeit betrachtet werden.
Dennoch sind viele Wissenschaftler mit dieser Interpretation und vor allem dem daraus folgenden Indeterminismus unzufrieden, was auch daran liegt, dass bis zum Aufkommen der Quantenmechanik jede Theorie deterministische Vorhersagen machte. Daher haben sie im Laufe der Zeit alternative Interpretationsmöglichkeiten entwickelt.
Verborgene-Variablen-Theorien
Verborgene-Variablen-Theorien sind ein Überbegriff für Interpretationen der Quantenmechanik, die davon ausgehen, dass die Quantenmechanik keine vollständige Theorie ist und noch weitere (verborgene) Variablen existieren, die das System determinieren. Verwendet eine solche Theorie lokale verborgene Variablen, so würde sie die sogenannten Bell‘schen Ungleichungen erfüllen (Shimony 2004). Es konnte jedoch experimentell bestätigt werden, dass diese Ungleichungen nicht erfüllt sind (Aspect 1999). Damit werden Theorien mit verborgenen Variablen stark eingeschränkt.
De-Broglie-Bohm-Theorie. Die bekannteste nicht-lokale und damit von diesen Einschränkungen nicht betroffene Theorie mit verborgenen Variablen ist die De-Broglie-Bohm-Theorie (vgl. Abb. 3). Sie besagt, dass die Schrödingergleichung nicht das gesamte System beschreibt. Nach dieser Theorie hat jedes Teilchen einen wohldefinierten Ort und eine wohldefinierte Geschwindigkeit, die durch eine sogenannte Führungsgleichung festgelegt werden. Die Wellenfunktion agiert dann als eine die Teilchenbewegung führende Welle (Pilotwelle).
Da die Führungsgleichungen aus einer Differentialgleichung der Wellengleichung bestimmt werden, müssen zur genauen Beschreibung Anfangsbedingungen gefunden werden. Da diese nicht bestimmt werden können, kommt es zum scheinbaren Indeterminismus der Quantenmechanik (Dürr, Goldstein & Zanghí 1992).
Viele-Welten-Interpretation
Am bekanntesten dürfte die Viele-Welten-Interpretation sein. Diese umgeht das Problem des Indeterminismus und des Messproblems, indem sie davon ausgeht, dass die Schrödingergleichung sich zur Beschreibung von jeglichen abgeschlossenen Systemen eignet (Tegmark 2009). D. h. zu jedem Zeitpunkt, auch bei einer Messung, lässt sich das System mit der Schrödingergleichung vollständig beschreiben. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es zu keinem Kollaps der Wellenfunktion kommen kann und stattdessen nach einer Messung eines Superpositionszustandes alle Zustände angenommen werden, jedoch in unterschiedlichen Universen (vgl. Abb. 4).
Bei jedem Messvorgang entsteht für jeden möglichen Ausgang ein neuer Zweig eines Universums, in dem genau dieser Ausgang eingetroffen ist.
Die Vorstellung mehrerer Universen, in denen das eigene Ich nochmals existiert und einen anderen Weg eingeschlagen hat, ist für viele sehr interessant.
Diese Idee eines Multiversums hat inzwischen die Popkultur erreicht und findet sich in vielen Büchern und Filmen. Die Vorstellung mehrerer Universen, in denen das eigene Ich nochmals existiert und einen anderen Weg eingeschlagen hat, ist für viele sehr interessant. Ob die Realität wirklich so aussieht, ist ob der schieren Anzahl an denkbaren Universen, die sich in den meisten Fällen wie ein Ei dem anderen gleichen, jedoch fraglich.
Dies ist nur ein Überblick über die vielen Interpretationen der Quantenmechanik, die seit ihrer Formulierung entwickelt wurden. Sie alle sind in der Lage, die Ergebnisse der Quantenmechanik zu reproduzieren. Das bedeutet, dass man nicht auf wissenschaftlichem Wege herausfinden kann, welches die richtige Interpretation ist. Möglicherweise wird es an einem zukünftigen Zeitpunkt möglich sein, mit genaueren Messmethoden die eine oder andere Interpretation auszuschließen. Jedoch ist es durchaus möglich, dass in der Zwischenzeit weitere Interpretationen gefunden werden. Vermutlich wird man nie in der Lage sein, allein mit wissenschaftlichen Methoden zu entscheiden, welche Interpretation die richtige ist. Dies zeigt die Grenzen der Wissenschaft auf: Wenn es um die Interpretation wissenschaftlicher Erkenntnisse geht, kann die wissenschaftliche Methode nur bedingt Antworten liefern. Man muss sich hier anderer Mittel bedienen. Und selbst wenn man zu einer vernünftigen Interpretation kommt, die im Einklang mit den Messdaten ist, heißt dies noch lange nicht, dass es die richtige ist. Es könnte eine weitere Interpretation geben, die die Messdaten genauso gut oder sogar genauer beschreibt.
Selbst wenn man zu einer vernünftigen Interpretation kommt, die im Einklang mit den Messdaten ist, heißt dies noch lange nicht, dass es die richtige ist.
Eine weitere Sache fällt bei der Betrachtung dieser unterschiedlichen Interpretationen auf:
Obwohl die Aussagen der Quantenmechanik, wie man es auch an der Kopenhagener Deutung sieht, nicht deterministisch wirken, ermöglichen die meisten alternativen Interpretationen ein deterministisches Weltbild.
Viele Interpretationen sind bemüht, ein solches Weltbild zu erhalten. In einem deterministischen Weltbild ist alles vorherbestimmt, sogar die Prozesse im menschlichen Gehirn. Freier Wille (im Sinne einer echten libertarischen Freiheit) ist dieser Anschauung zufolge nicht gegeben.
Des Weiteren resultiert aus der Viele-Welten-Interpretation eine Anschauung, der zufolge jeder einzelne Mensch nichts Besonderes wäre, sondern nur eine von unzähligen anderen Varianten „seines“ Lebens und im Grunde nur eine beliebig kurze Episode eines gigantischen Kopierprozesses. Getroffene Entscheidungen würden nichts Anerkennungswürdiges darstellen, da es reiner Zufall wäre, dass „man“ sich in einem Universum vorfände, in welchem „man“ diese Entscheidungen getroffen hätte. Mehr noch:
Die personale Identität des menschlichen Subjekts – dass ich derselbe bin, durch die Zeit hindurch und damit durch sehr viele Ereignisse meines Lebens – wird hier fragwürdig.
Diese Interpretationen entstammen offensichtlich einem fatalistischen Weltbild, das zudem die objektive personale Identität des Ichs, wie sie unserem natürlichen Selbstverständnis entspricht, in Frage stellt. Dieses folgt nicht aus den wissenschaftlichen Daten, schließlich ist ja auch die Kopenhagener Deutung im Einklang mit diesen Daten. Sie entstammen eher aus der persönlichen Weltanschauung derer, die diese Theorien postulierten.
Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass es einige Interpretationen neben der Kopenhagener Deutung gibt, die einem indeterministischen Weltbild nicht widersprechen. Das Free Will Theorem von John Conway z. B. geht sogar so weit, unter gewissen Voraussetzungen den Teilchen ein Maß an freiem Willen zuzuordnen (Conway & Kochen 2006).
Verschiedene Weltanschauungen
Dieser Sachverhalt von unterschiedlichen, empirisch gleichwertigen Interpretationen einer Theorie lässt sich nicht nur auf einzelne wissenschaftliche Theorien anwenden, sondern auch auf die Deutung der Wissenschaft als Ganzes. Man spricht hier häufig von unterschiedlichen Weltanschauungen. Ersetzt man nämlich in unseren Betrachtungen die Erkenntnisse und Interpretationen der Quantenmechanik durch diejenigen der gesamten Wissenschaft, erhält man im Wesentlichen dieselbe Aussage: Auf der einen Seite stehen die wissenschaftlichen Fakten (also die reinen Messdaten), die innerhalb ihrer jeweiligen Unsicherheiten unumstößlich sind. Auf der anderen Seite gibt es eine Interpretation dieser Fakten.
Diese kann stark von der eigenen Weltanschauung geprägt sein. Je mehr Relevanz diese Fakten für die entscheidenden Fragestellungen unserer Weltanschauungen haben, desto mehr ist dies der Fall. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass sich, wie bereits festgestellt, eine fatalistische und deterministische Weltanschauung in den meisten Theorien wiederfindet, wenn man bedenkt, dass viele Wissenschaftler eine solche Weltanschauung teilen. Es sind jedoch weniger die wissenschaftlichen Fakten, die zu einer solchen Weltanschauung führen, sondern es ist vielmehr das Vorhandensein einer solchen Weltanschauung bei Forschern, das zu einer solchen Interpretation der Fakten führt. Die Vielfältigkeit unterschiedlicher Interpretationen der Quantenmechanik stellt somit eine Analogie zur Vielfältigkeit unterschiedlicher Weltanschauungen dar, die im Einklang mit den wissenschaftlichen Daten sind.
Es sind weniger die wissenschaftlichen Fakten, die zu einer solchen Weltanschauung führen, sondern vielmehr die Weltanschauung, die zu einer bestimmten Interpretation der Fakten führt.
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es möglich sein sollte, Interpretationen der wissenschaftlichen Fakten zu finden, die im Einklang mit anderen Weltanschauungen sind. Auch ist zu erwarten, dass die richtige Weltanschauung zu einer Deutung der Fakten führt, die über die derzeitigen Theorien hinausgeht und weitere (empirisch gehaltvolle) Aussagen macht, anhand derer sie bestätigt werden kann.
Der Grund dafür, dass die Kopenhagener Deutung nach wie vor als Standard gilt, liegt darin, dass keine der alternativen Interpretationen einen Mehrwert in wissenschaftlichen Belangen liefert. Genauso kann von alternativen Theorien nicht erwartet werden, dass sie die bestehenden Theorien ersetzen, solange sie nicht mehr zutreffende Vorhersagen als diese machen, welche dann experimentell überprüft werden können. Zusammenfassend zeigt dieser Sachverhalt der unterschiedlichen, empirisch gleichwertigen Interpretationen der Quantenmechanik erneut, dass es in der Wissenschaft mehrere Wege gibt, die Fakten zu interpretieren. Die Vorherrschaft einer Interpretation bedeutet nicht notwendigerweise, dass diese, geschweige denn das ihr zugrundeliegende Weltbild, die richtige ist. Genauso wie es unmöglich ist, auf wissenschaftlichem Wege eine eindeutige Interpretation der Quantenmechanik zu finden, ist es rein wissenschaftlich unmöglich die Weltanschauung einer geschaffenen bzw. einer zufällig entstandenen Welt zu widerlegen.
Dies liegt jenseits der Grenzen der Wissenschaft.
Es ist lediglich möglich, eine vorläufige, der Gesamtheit der Befunde am besten gerecht werdende Interpretation zu wählen.
Literatur
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Dürr D, Goldstein S & Zanghí N (1992) Quantum equilibrium and the origin of absolute uncertainty. J. Stat. Phys. 67, 843–907, doi:1007/BF01049004.
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Einstein A (1915) Erklärung der Perihelbewegung des Merkur aus der allgemeinen Relativitätstheorie, Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 831–839.
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Feynman R (1948) Space-time approach to non-relativistic quantum mechanics. Rev. Mod. Phys. 20, 367–387.
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