Beim folgenden handelt es sich um einen Artikel, der ursprünglich in der Zeitschrift “Studium Integrale Journal“ (Jahrgang 30 Heft 2) der Studiengemeinschaft Wort und Wissen erschienen ist.
Kaum eine Theorie fordert unser Verständnis mehr heraus als die Quantenmechanik. Ein entscheidender Unterschied zur klassischen Physik besteht darin, dass sich ein Teilchen, solange es nicht gemessen wird, in einer Überlagerung aller physikalisch möglichen Zustände befindet. Man kann nur angeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Teilchen einen bestimmten Zustand einnimmt (s. auch Göcking 2023). Da die Quantenmechanik jedoch das Verhalten auf der Ebene der kleinsten Teilchen beschreibt und dieses Verhalten im makroskopischen Bereich nicht beobachtet werden kann, stellt sich die Frage, wie es zu diesen Unterschieden kommt. Der Übergang zwischen der quantenmechanischen und der makroskopischen Welt wird als Dekohärenz bezeichnet und ist nicht eindeutig verstanden. Bei der Erforschung dieses Übergangs gelingt es, Quanteneffekte auf immer höheren Skalen zu beobachten. So berichtet Fischer (2023), dass es einer Arbeitsgruppe um Matteo Fadel von der ETH Zürich gelungen ist, einen 16 Mikrogramm schweren Saphir in einen solchen Überlagerungszustand zu versetzen. 16 Mikrogramm klingt wenig, ein Saphir mit dieser Masse enthält aber 10^17 Atome, also mindestens hundert Billiarden Atome.
Zur Veranschaulichung des Überlagerungsprinzips wird das Gedankenexperiment von Schrödingers Katze verwendet (Abb. 1). In diesem Experiment wird eine Katze in eine Kiste gesperrt, in der sich ein Tötungsmechanismus befindet, der durch radioaktiven Zerfall ausgelöst wird. Sobald der Zerfall (der den Gesetzen der Quantenmechanik folgt) stattgefunden hat und der Mechanismus ausgelöst wird, wird die Katze getötet. Bis der Zustand des Systems gemessen wird, befindet sich das radioaktive Element jedoch in einem Überlagerungszustand von Zerfallen und nicht Zerfallen. Dieser überträgt sich auf die Katze und bewirkt, dass sich die Katze bis zu einer Messung in einem Überlagerungszustand von tot und lebendig befindet. Sowohl im Spektrum-Artikel von Fischer (2023) als auch im Fachartikel der Arbeitsgruppe (Fadel et al. 2023) wird dies so formuliert, dass die Katze gleichzeitig tot und lebendig ist. Diese Wortwahl wird in der Physik üblicherweise vermieden, da sie nicht zutreffend ist. Es ist vielmehr so, dass erst durch die Messung festgestellt wird, ob die Katze tot oder lebendig ist. Vorher kann nur eine Wahrscheinlichkeit angegeben werden, welcher der beiden Zustände bei der Messung eingenommen wird. Das Problem hierbei ist, dass die gängige Kopenhagener Deutung nur in Bezug auf eine erfolgte Messung eindeutige Aussagen machen kann.
Ein weiteres Problem ist die Beschreibung der oben erwähnten Dekohärenz. Jede der vielen Interpretationen der Quantenmechanik hat darauf eine eigene Antwort gefunden. In der Kopenhagener Deutung spricht man von einem Kollaps der Wellenfunktion. Die durch die Schrödingergleichung gegebene Wellenfunktion beschreibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Zustand gemessen wird. Bei einer Messung kollabiert die Wellenfunktion in einen konkreten Zustand. Dieser unstetige Prozess (Zustandsreduktion) ist jedoch keine wirklich zufriedenstellende Antwort.
Eine Interpretation, die beide genannten Probleme (Dekohärenz und Zustandsreduktion) zu lösen vermag, ist die konsistente-Historien-Interpretation (Griffiths 2006). Während die Kopenhagener Deutung beschreibt, wie das Ergebnis einer Messung durch Wahrscheinlichkeiten beschrieben werden kann, erklärt die konsistente-Historien-Interpretation das Auftreten von Wahrscheinlichkeiten als inhärenten (notwendig innewohnenden) Zustand der Quantenmechanik. Damit können Prozesse, die der Messung nicht zugänglich sind (z. B. Kernfusionsprozesse in der Sonne), konsistent beschrieben werden. Durch ein klares Regelwerk, welche Historien (Abfolge von quantenmechanischen Ereignissen) miteinander konsistent sind, kann eine schlüssige Interpretation der Quantenmechanik gewonnen werden. Paradoxien, die in der Quantenmechanik auftreten, können umgangen werden, da sie sich auf inkompatible Historienfamilien beziehen. Am Beispiel von Schrödingers Katze besteht eine konsistente Historienfamilie aus der Überlagerung der Zustände, dass die Katze tot oder lebendig ist. Dies ergibt sich aus der zeitlichen Entwicklung des Systems. Eine weitere konsistente Historienfamilie ist die der Historien, dass die Katze tot oder lebendig ist (Gheorghiu 2007). Nach der konsistente-Historien-Interpretation sind diese beiden Historienfamilien untereinander jedoch inkompatibel. Die Frage, ob die Katze zu einem bestimmten Zeitpunkt tot oder lebendig ist, wenn man die Situation durch eine Überlagerung der Zustände beschreibt, ist deshalb unsinnig, weil sie zwei inkompatible Sichtweisen kombiniert. Während die Kopenhagener Deutung die Beantwortung dieser Frage auf die Messung verschiebt, schließt die konsistente-Historien-Interpretation die Frage a priori (von vorneherein) als auf falschen Prämissen beruhend aus. Dies ist vergleichbar mit den Paradoxien der Relativitätstheorie, die sich dadurch auflösen lassen, dass in der Fragestellung Raum oder Zeit als absolut angenommen werden, was in der Relativitätstheorie nicht der Fall ist.
Welche Interpretation der Quantenmechanik die richtige ist, bleibt aber weiterhin offen. Dies wiederum zeigt, wie komplex es für uns Menschen sein kann, die Realität der Schöpfung zu verstehen und zu beschreiben. Eine bessere Erforschung des Übergangs zwischen Quantenmechanik und klassischer Physik soll unter anderem diese Frage beantworten.
Literatur
Göcking J (2023) Multiversum, verborgene Variablen oder Zufall? Welche Interpretation der Quantenmechanik beschreibt die Wirklichkeit? Stud. Integr. J. 30, 31–37
Fischer L (2023) Schrödingers Katze wiegt jetzt 16 Mikrogramm, https://www.spektrum.de/news/schroedingers-katze-wiegt-jetzt-16-mikrogramm/2134377
Fadel M et al. (2023) Schrödinger cat states of a 16-microgram mechanical oscillator. Science 380, 274–278
Griffiths R (2006) Quantum mechanics without measurements. arXiv:quant-ph/0612065
Gheorghiu V (2007) Consistent Histories: Questions and Answers. https://quantum.phys.cmu.edu/CHS/quest.html