Sci-Faith Leseprobe Teil II: Theorien sind wie Kinderrätsel
„Der Spaß fängt erst dann an, wenn man die Regeln kennt. Im Universum aber sind wir momentan noch dabei, die Spielanleitung zu lesen.“ – Richard Feynman1
Als Kind löste ich gerne Kinderrätsel. Eines meiner Lieblinge waren die Rätsel in denen verschiedene Punkte gegeben waren, jeder mit einer Zahl versehen. Die Aufgabe war es diese Punkte zu verbinden angefangen bei 1 bis zur letzten Zahl. In der Regel wurde, um den Kreis zu schließen die letzte Zahl wieder mit der 1 verbunden (s. Abb. 1)2. Hatte man alle Zahlen richtig verbunden entstand ein Bild. Bevor die Zahlen verbunden waren, war es eine bloße Anhäufung von Punkten die auf kein Muster zurückschließen ließen. Durch die Verbindung der Punkte in der richtigen Weise kam jedoch das dem Rätsel zugrundeliegende Bild zum Vorschein.
Wissenschaftler lösen im Prinzip dasselbe Rätsel, nur dass die Schwierigkeit ein wenig erhöht wurde. Als Wissenschaftler hat man nur noch die einzelnen Punkte gegeben. Die Zahlen, welche die Reihenfolge angeben in der die Punkte verbunden werden müssen um das zugrundeliegende Bild zu erhalten sind unbekannt. Mehr noch, man kennt in der Regel nicht einmal alle Punkte sondern nur einen Teil der Punkte.
Stellt euch also vor, vor euch liegt ein solches Rätsel nur ohne die Zahlen. Der Einfachheit halber nehmen wir zuerst ein Spiel, in dem alle Punkte bekannt sind.
Wie löst man dieses Spiel?
Viele würden vermutlich einfach anfangen und versuchen durch ausprobieren eine Lösung zu finden, was nicht der schlechteste Ansatz ist und durchaus Ergebnisse erzielen kann. Eine andere Möglichkeit ist es, die Punkte zu betrachten und durch abstraktes Denken zu versuchen das zugrundeliegende Muster zu erraten oder herzuleiten.
Welchen Ansatz man auch wählt, es sollte klar werden, dass es theoretisch sein kann, dass man ein Muster findet, welches alle Punkte verbindet und ein schönes Bild ergibt, welches aber trotzdem nicht das zugrundeliegende Bild ist. Mit anderen Worten, es kann sein, dass man durch das Verbinden der Punkte z.B. einen Elefanten zeichnet, das zugrundeliegende Bild jedoch ein Löwe ist. Je nach Lage der Punkte kann eine solche Mehrdeutigkeit in diesen Rätseln vorhanden sein.
Erweitern wir dieses Spiel und nehmen hinzu, dass wie schon erwähnt nicht alle Punkte bekannt sind, und während die Punkte verbunden werden zusätzliche Punkte auftauchen können. Nun kann es passieren, dass gewisse Bilder die man herausgefunden hat, durch einen der neuen Punkte zunichte gemacht werden und neue Bilder die zuvor nicht möglich erschienen möglich geworden sind. Auch Mehrdeutigkeiten können in einem solchen Spiel auftreten und durch neu auftretende Punkte verringert, aber auch vergrößert werden. Zudem kann man in einem solchen Spiel Bilder erraten, die Stellen haben, an denen vermeintlich keine Punkte sind, später aber welche auftauchen könnten.
Was hat das nun mit Wissenschaft zu tun?
Die Punkte beschreiben Messungen, die bereits durchgeführt wurden. Neu auftretende Punkte sind Messungen die in Zukunft durchgeführt werden. Die Verbindung dieser Punkte zu einem Bild ist das, was wir als wissenschaftliche Theorie bezeichnen. Somit können durch neue Messungen, neue Punkte auftauchen, die von den alten Theorien nicht beschrieben werden und diese Bilder daher zunichte machen. Auf der anderen Seite können neue Theorien dort Punkte vermuten wo noch nichts ist und wenn diese später gemessen werden sollten, dadurch bestätigt werden.
Es wird somit deutlich, dass es auch in wissenschaftlichen Theorien Mehrdeutigkeiten geben kann. Es können also mehrere Bilder existieren, die alle Punkte miteinander verbinden und doch unterschiedlich aussehen. In wissenschaftlichen Theorien, können diese Unterschiede zum einen Unterschiede in der Beschreibung der Theorie und zum anderen Unterschiede in der Interpretation der Theorie sein. Manchmal kann dies auch zusammenhängen. Im Folgenden werden wir am Beispiel der Quantenmechanik verdeutlichen, wie dies in der Wissenschaft konkret aussieht.
In dieser Leseprobe werden wir uns allerdings auf eine Beschreibung unterschiedlicher Interpretationen beschränken. In meinem Buch befindet sich zuvor noch ein Abschnitt in welchem verschiedene Beschreibungsmöglichkeiten einer Theorie veranschaulicht werden.
Verschiedene Interpretationen
Eine Möglichkeit unterschiedliche Bilder zu erhalten ist durch unterschiedliche Interpretationen. Dies lässt sich in der Quantenmechanik gut verdeutlichen. In der klassischen Physik ist es möglich, bei bekannten Anfangsbedingungen eines Systems die Zukunft und Vergangenheit des Systems komplett zu bestimmen. Wenn ich weiß mit welcher Geschwindigkeit sich ein Meteorit in welche Richtung bewegt und zudem seine Masse und andere relevante Daten kenne, kann ich berechnen ob er die Erde treffen wird oder nicht. Dadurch wird in der klassischen Physik alles durch seine Anfangsbedingungen bestimmt. Man bezeichnet die klassische Physik daher auch als deterministisch. In der Quantenmechanik ist dies jedoch anders: Ob ein Teilchen sich von A nach B bewegt, ist nicht mehr vorherzusagen, man kann nur eine Wahrscheinlichkeit angeben, dass dies passiert. Die Quantenmechanik ist somit indeterministisch.
Dies liefert Spielraum für diverse Interpretationen. Die geläufigste ist die Kopenhagener Deutung. Diese besagt, dass das zufallsgesteuerte Verhalten der Quantenmechanik nicht darauf hindeutet, dass es eine uns nicht zugängliche tieferliegende Realität gibt, in der dieses System determiniert wird, sondern, dass es eine Grundeigenschaft der Natur ist. Zwar wird diese Deutung von den meisten Wissenschaftlern anerkannt, aber auch nur, weil es nach dem Prinzip „Das ist halt so.“ erklärt und sich unsere Kenntnisse über die Quantenmechanik nicht erweitern, ganz egal welche Interpretation wir für sie haben. Ich persönlich kann mir aber durchaus vorstellen, dass der Wahrscheinlichkeitscharakter der Quantenmechanik tatsächlich so in der Natur verankert ist und bin daher von dieser Deutung auch am ehesten überzeugt.
Vielen passt dieses indeterministische Weltbild allerdings nicht, weswegen viele andere Interpretationen entwickelt wurden. Auch Einstein hatte mit dieser Deutung Probleme und war Anhänger von Theorien mit verborgenen Variablen. In diesem Zusammmenhang entstand sein Zitat „Gott würfelt nicht!“, mit welchem er seine Unzufriedenheit über die auf Wahrscheinlichkeiten basierende Quantenmechanik ausdrücken wollte3. In Theorien mit verborgenen Variablen geht man davon aus, dass es weitere Variablen gibt, die das quantenmechanische System beschreiben, die jedoch nicht gemessen werden können. Diese Variablen determinieren das System. Dies ist eine der wenigen Interpretationen die experimentell überprüft werden konnte und gilt heute weitestgehend als widerlegt4.
Eine andere sehr populär gewordene Interpretation ist die Viele-Welten-Theorie5. Hier geht man davon aus, dass ein Teilchen nicht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von A nach B geht, sondern immer, nur nicht in jeder Welt. Demnach ist es so, dass für jede Option die ein Teilchen wählen kann eine neue Welt entsteht in der das Teilchen genau diese Option gewählt hatte.
Vermutlich ist diese Theorie so populär geworden, da sie den Schluss zulässt, dass man selbst in irgendeiner dieser Parallelwelten ein schwerreicher, weltebekannter Philantrop ist, der alles hat was man sich wünschen kann. Betrachtet man aber diese Theorie genauer, wird sie meines Erachtens nach sehr schnell absurd. Denn ein solcher Prozess in dem ein Teilchen mehrere Optionen zur Auswahl hat passiert unzählbar oft pro Sekunde. Wenn jetzt in jeder Sekunde unzählbar viele neue Welten entstehen und in jeder dieser Welten unzählbar viele neue Welten entstehen, bilden sich permanent etliche neue Welten, die sich in den meisten Fällen kaum voneinander unterscheiden. Denn wenn am anderen Ende der Milchstraße ein Teilchen statt nach rechts nach links fliegt hat das auf mich und die gesamte Menschheit in der Regel wenig Einfluss, wird aber zu einer eigenen Welt führen, auch wenn sich relativ zu unserer Welt nichts Bedeutendes ändern sollte.
Natürlich kann das trotzdem sein, da es ja eigentlich keine maximale Anzahl an Welten gibt die existieren sollten (zumindest kennen wir keine), jedoch erscheint es mir persönlich äußerst absurd.
Auch wenn einige Interpretationen vernünftiger erscheinen als andere, was meist subjektiv ist, kann keine Interpretation wissenschaftlich ausgeschlossen werden, solange sie nicht den Beobachtungen widerspricht. Dies ist wie bereits bemerkt bei allen alternativen Theorien außer den Theorien mit verborgenen Variablen auch der Fall (wobei Theorien mit verborgenen Variablen auch so angepasst werden können, dass sie mit den Messungen übereinstimmen).
Ich hoffe ich konnte euch in diesen beiden Leseproben veranschaulichen, wie wissenschaftliche Theorien funktionieren. Diese mögliche Mehrdeutigkeit in der Wahl von Theorien ähnelt einem auch in unseren physikalischen Theorien auftretendem Prinzip: Der Eichfreiheit von Theorien.
Mehr dazu und findet ihr in meinem Buch, welches schon bald erhältlich sein wird.
(Update: Das Buch wurde inzwischen veröffentlicht. Mehr Informationen findest Du hier.)
Zudem finden sich dort Schlussfolgerungen darüber wie dieses Verständnis vom Wesen von Theorien genutzt werden kann, um die Wissenschaft mit dem Glauben zu vereinigen und noch vieles mehr.
Hier kannst Du Dir auch die Podcastfolge zu diesem Beitrag anhören.
Richard P. Feynman, Robert B. Leighton, Matthew Sands; Vorlesungen über Physik: Band I: Mechanik, Strahlung, Wärme, Oldenbourg Verlag, München, 1991.
Bild: Autor: Painter, Quelle: SuperColoring, Lizenz: CC BY-NC 4.0
Albert Einstein, Hedwig und Max Born, Briefwechsel 1916-1955. Rohwolt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg, 1972, S. 97f.
Alain Aspect, Jean Dalibard, Gérard Roger: Experimental Tests of Bell’s Inequalities Using Time-Varying Analyzers. In: Physical Review Letters. Band 49, Nr. 25, 1982, S. 1804–1807, doi:10.1103/PhysRevLett.49.1804.
Hugh Everett III., „Relative State“ Formulation of Quantum Mechanics., In: Reviews of modern physics, Vol. 29, 1957, S. 454–462, doi:10.1103/RevModPhys.29.454.